Bericht der Gruppe
Junge Kunst

Ankäufe 2023

Künstlerinnen sind in den meisten Kunstinstitutionen auch heute noch untervertreten – insbesondere in historischen Museen. Das ist im Kunsthaus Zürich nicht anders, auch wenn seit einigen Jahren im Team daran gearbeitet wird, das Missverhältnis auszugleichen. Die chilenische Künstlerin und Aktivistin Cecilia Vicuña (*1948) setzt sich seit vielen Jahrzehnten für einen strukturellen Wandel ein und bezeichnet ihre Kunst als feministisch. Sie verbindet diese Haltung mit ökologischen Anliegen und zählt damit zu einer Bewegung, die als Ökofeminismus bezeichnet wird. Ökofeministinnen ziehen Parallelen zwischen der Unterdrückung der Frau im Patriarchat und der Ausbeutung der Natur mit der Folge von Umweltzerstörung im Kapitalismus und fordern einen Systemwechsel. Für Cecilia Vicuña spielen indigenes Wissen und Spiritualität eine wichtige Rolle. 2022 hat sie in Tate Moderns Turbine Hall ein berührendes Requiem auf den Regenwald inszeniert. Bekannt geworden ist Vicuña durch ihre sogenannten «quipo-ems» – eine Wortneuschöpfung aus dem Englischen «poem» und dem Begriff «Quipu». Letzteres ist eine Knotenschrift der Inkas, die im alten Peru der Kommunikation diente. Vicuñas Gebilde aus Knoten und Fäden sind sozusagen räumliche Poesie. Sprache und Poesie bilden denn auch den Kern von Vicuñas Schaffen. Es freut uns daher ganz besonders, dass wir im letzten Jahr den frühen Film «What Is Poetry to You» (1980) erwerben konnten. Dieser entstand, als die Künstlerin wegen des Militärputschs gegen Allende in ihrem Heimatland Chile im Exil lebte. Sie interviewt Menschen auf den Strassen, in Tanzsälen und öffentlichen Parks der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, darunter Bettler, Geschäftsleute, Sexarbeiterinnen, Studenten, und fragt sie ganz einfach: «Was ist Poesie für Sie?» Die Antworten reichen vom Philosophischen über das Persönliche bis hin zum Politischen und zeigen nicht nur, wie vielfältig sich Poesie in den Köpfen und im Leben des einzelnen Menschen manifestiert, sondern fragen auch, welche Kraft und welches Potenzial sie in turbulenten Zeiten besitzt.

Cecilia Vicuña (*1948)
What Is Poetry to You, 1980
16-mm-Film, Farbe, Ton; erworben als digitale Datei, TV-Norm, Seitenverhältnis, Raummass: variabel,
Dauer: 23' 20'', Kunsthaus Zürich, Medienkunstsammlung
Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Cecilia Vicuña, 2024

Cemile Sahin (*1990)
Gewehr im Schrank, 2023
Videoinstallation, bestehend aus einem 1-Kanal-Video, Farbe, Ton; erworben als digitale Datei, TV-Norm, Seitenverhältnis, 6 doppelseitige UV-Prints auf Alu-Dibond, Tapete, Spiegelfolie, Vinyl, Raummass: variabel,
Blattmass: je 100 × 80 cm, Dauer: 3' 20''
Kunsthaus Zürich, Medienkunstsammlung,
Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Cemile Sahin / Foto: Christian Lauer / Nassauischer Kunstverein Wiesbaden

Literatur und bildende Kunst verbindet auch die junge kurdische Künstlerin Cemile Sahin (*1990), von der die Gruppe Junge Kunst die raumumfassende Installation «Gewehr im Schrank» (2023) angekauft hat. Darin befasst sich die Künstlerin mit der Militarisierung westlicher Gesellschaften am Beispiel der Schweiz. Der Titel bezieht sich auf die gängige Praxis, dass Schweizer Soldaten ihre Dienstwaffe nach der militärischen Ausbildung mit nach Hause nehmen und sozusagen im Schrank aufbewahren. Die Installation besteht aus einem Video, kombiniert mit Boden und Wandcollagen, die verschiedene historische, politische sowie technische und digitale Aspekte der Militarisierung miteinander verweben. Ausgangspunkt von Sahins Recherche waren zwei Verträge, die vor hundert Jahren unterzeichnet wurden und die die Gebiete des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg aufteilten: der Vertrag von Sèvres (1920) und der Vertrag von Lausanne (1923). In diesen Verträgen wurden unter anderem die heutigen Staatsgrenzen der Türkei festgelegt. Hundert Jahre nach Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne sind die Folgen dieser willkürlichen Grenzziehung in der Region noch immer spürbar. Lausanne spielte aber nicht nur militärgeschichtlich eine wichtige Rolle, sondern ist gleichzeitig ein wichtiger Standort für die Entwicklung und Produktion von Kampfdrohnen heute. Darauf spielt die Künstlerin in dem Video in der Installation an. Dort sehen wir einen vollständig computergenerierten weiblichen Avatar, der uns die in der Region hergestellte Drohnentechnologie vorstellt, wobei die Informationen aus dem Marketingmaterial des Militärherstellers stammen. Ein Hintergrundbild zeigt die Stadt Lausanne, wie sie von einer Drohne dargestellt würde.

Kelly Tissot (*1995)
Dubious portrait and improper meeting / Schoolgirl I, 2022
Digitaler UV-Print auf Kunstleder
Bildmass: 290 × 210 cm
Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Kelly Tissot, 2024

Um einen Bruch mit dem klischeehaftromantischen Schweizer Landschaftsbild geht es auch in der Arbeit der französischen Künstlerin Kelly Tissot (*1995). Seit 2016 arbeitet sie an fotografischen Serien, die Widersprüchlichkeiten zwischen Natur und Kultur, Häuslichkeit und Wildnis sowie Abgeschiedenheit und Gemeinschaft in den Fokus rücken. Oft begleitet von skulptural raumgreifenden und zugleich raumdefinierenden Strukturen, die unseren gewohnten Blick auf die Fotografie irritieren, schwingt nicht selten etwas Beunruhigen des im Werk der Künstlerin mit. So ist es auch in den zwei Arbeiten, die die Gruppe Junge Kunst im Berichtsjahr angekauft hat und die 2022 in Tissots Einzelausstellung im Kunsthaus Baselland zu sehen waren. Auf den ersten Blick ist unklar, ob es sich bei den zwei monumentalen Schwarz-Weiss-Fotografien um Spuren eines Tatorts handelt, und der Titel «Dubious portrait and improper meeting/ Schoolgirl I +II» verstärkt die Ambiguität. Erst bei genauerem Hinschauen wird deutlich, dass es sich bei den fotografierten Körpern um Vogelscheuchen handelt, die Tissot auf einem Bauernhof in der Provinz gefunden hatte. Solche Spuren des menschlichen Eingriffs in die Natur, bzw. der Geräte und Maschinen, die der Mensch verwendet, um die Natur zu zähmen oder zu kontrollieren, sind in Tissots Fotografien und Raumkörpern ein wiederkehrendes Thema.

Kelly Tissot (*1995)
Dubious portrait and improper meeting / Schoolgirl II, 2022
Digitaler UV-Print auf Kunstleder
Bildmass: 290 × 210 cm
Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Kelly Tissot, 2024

Roman Gysin (*1984)
Shaped Edges (Woody Shopper), 2023
Holz, Stoff, Farbe und Metall
Objektmass: 120 × 300 × 23 cm
Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
Courtesy Kunsthalle 8000, Bild: Flavio Karrer
© Roman Gysin, 2024

Ein spannungsgeladenes Treffen von Natur und Mensch inszeniert auch der 1984 geborene Roman Gysin in seiner Arbeit «Shaped Edges (Woody Shopper)» (2023). «Woody Shopper» ist eine Hommage an das Holz – und gleichzeitig an die berühmt gewordene Tasche der Modemarke Chloé. Diese Verbindung von zwei völlig gegensätzlichen Welten ist charakteristisch für Gysin. In seinem Werk verweben sich Dekoration, das Unheimliche, der Fetisch, das Alltägliche und Unscheinbare zu faszinierenden Wandarbeiten, Skulpturen und Installationen. Ausgangspunkt seiner Werke bilden oft dekorative Phänomene im Alltag, denen der Künstler auf seinen Recherchen begegnet und die er fotografisch festhält. In der Umsetzung seiner skulpturalen Arbeiten kommt dann dem Spiel mit der Materialität und deren Möglichkeiten der Transformation eine zentrale Rolle zu. Für Gysin stellt Kunst einen Prozess dar, in dem er über Begriffe nachdenken und Wertesysteme umdeuten kann. Dabei interessiert ihn das zum Dekorativen verkommene Nachleben des Minimalismus besonders, und seine Werke lassen sich wohl am besten als queeren Minimalismus beschreiben.

Bei Teresa Gierzyńska schliesslich geht es um eine Befragung der Darstellung der Frau und ihrer von der Gesellschaft geprägten Rolle. Seit den 1960er-Jahren arbeitet sie mit Fotografie und Vervielfältigungstechniken wie der Thermo oder Fotokopie an diesem Thema und über die Zeit ist ein beeindruckender Werkzyklus entstanden. Doch obwohl Gierzyńska längst nicht mehr zu den jungen Künstlerinnen zählt, gilt es, ihr Werk erst noch zu entdecken. Die 1947 in Rypin, Polen, geborene Künstlerin teilt damit das Schicksal vieler weiblicher Kunstschaffender, die erst spät in ihrem Leben – wenn überhaupt – die Anerkennung finden, die ihnen gebührt. Dieser Tatsache trägt die Gruppe Junge Kunst Rechnung und weitet das «jung» in ihrem Namen entsprechend aus.

Von Teresa Gierzyńska hat die Gruppe drei Fotografien aus ihrer wichtigsten Serie «About Her» angekauft. Darin lotet Gierzyńska einerseits ihre eigene Geschichte aus, verbindet aber das Intim-Private mit einer kraftvollen Darstellung weiblicher Identität.

Mirjam Varadinis
Curator-at-large Kunsthaus Zürich
Vorsitzende Gruppe Junge Kunst

Teresa Gierzyńska (*1947)
Teresa’s Case. From the Series «About Her», 1979
Fotografie, s/w, Silbergelatineabzug auf
mattem Papier, aufgezogen auf Karton,
Grafitstift, ­ Holzrahmen, UV-Glas
Rahmenmass: 29,6 × 20,5 × 3 cm
Kunsthaus Zürich,
© Copyright the artist and Gunia Nowik Gallery, 2024

Teresa Gierzyńska (*1947)
Velvety. From the Series «About Her», 1981
Fotografie, s/w, Silbergelatineabzug
auf mattem Papier, Grafitstift, Stempel,
aufgezogen auf Karton, Holzrahmen,
UV-Glas
Rahmenmass: 20,4 × 30,6 × 3 cm
Kunsthaus Zürich, Fotosammlung,
Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Copyright the artist and Gunia Nowik Gallery, 2024

Teresa Gierzyńska (*1947)
Indifferent. From the Series «About Her», 1989
Fotografie, s/w, Silbergelatineabzug
auf mattem Papier, mit Anilin gefärbt,
Acrylfarbe, ­ Holzrahmen, UV-Glas
Rahmenmass: 18 × 26,5 × 3 cm
Kunsthaus Zürich, Fotosammlung,
Vereinigung Zürcher Kunstfreunde,
Gruppe Junge Kunst, Ankauf 2023
© Copyright the artist and Gunia Nowik Gallery, 2024